Zur Jahreswende kursierte durch die tschechische Medienlandschaft die für viele wohl erfreuliche Nachricht, dass nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) selbständig erwerbstätige Personen, die langfristig mit einem Abnehmer für eine Vertragspauschale zusammenarbeiten, Anspruch auf bezahlten Urlaub haben.1
Die Ergebnisse dieser gerichtlichen Entscheidung wurden in den Medien allerdings recht verzerrt präsentiert. In Wirklichkeit muss man sich nämlich klar zu machen, dass die genannte Entscheidung nicht allzu bahnbrechend ist, da sie im gewissen Maße eher die bislang vertretene Auffassung zur Problematik der sog. verdeckten Ausübung unselbständiger Arbeit weiter ausführt. Vereinfacht gesagt, die europäische und die tschechische Rechtspraxis zielen darauf ab, dass, wenn jemand „faktisch eine Arbeit wie ein Arbeitnehmer ausübt“, er sich aber nur „zum Schein als Gewerbetreibender ausgibt“, er als Arbeitnehmer mit allen damit verbundenen Folgen zu behandeln ist.
Sinngemäß war dies eben bei der zitierten Entscheidung des EuGH in der Sache King der Fall. Der EuGH hat sich hier mit der Frage befasst, wie die entsprechende europäische Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung anzuwenden ist. Der aus dieser Richtlinie resultierende Urlaubsanspruch kann dabei nur demjenigen zuerkannt werden, der als „Arbeiter“ bezeichnet werden kann.2 Den Begriff „Arbeiter“ bestimmt der EuGH dabei nach objektiven Kriterien, die die arbeitsrechtliche Beziehung unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen charakterisieren.3 Herr King arbeitete für Sash WW auf der Basis eines „Selbständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision“. Obwohl es sich formal um einen Vertrag unter Unternehmern handelte, hat der EuGH (analog wie die britischen Gerichte) zugestanden, dass auf Herrn King die Schutzbestimmungen der europäischen Richtlinie zur Mindestbemessung bezahlten Urlaubs Anwendung finden. Dies führte dazu, dass die „überraschte“ Gesellschaft Sash WW Herrn King den nicht in Anspruch genommenen Urlaub ab dem Jahr 1996 nachzuzahlen hat (!).
Hierzulande wird häufig vom sog. Švarc-System gesprochen. Obwohl die tschechischen Rechtsvorschriften nicht den Begriff „Arbeitnehmer“ verwenden, sondern den Begriff „unselbständige Arbeit“, sind der tschechische und der europäische Ansatz im Prinzip ähnlich. Wird der Nachweis erbracht, dass die Vertragsparteien vereinbart haben, dass von einem eine unselbständige Arbeit verrichtet wird, d.h. dass der „Selbständige“ für eine andere Person:
- persönlich Arbeit verrichten wird,
- nach den konkreten Weisungen dieser anderen Person,
- in ihrem Namen,
- für eine (in der Regel feste) Vergütung,
- auf ihre Kosten und Verantwortung,
- in der Arbeitszeit und am Arbeitsplatz dieser Person,
wird eine solche Beziehung ungeachtet der formalen Bezeichnung der Parteien als Unternehmer und der Bezeichnung des Vertrages als „unselbständige Arbeit“ beurteilt. Die Beziehung zwischen den konkreten Vertragsparteien ist dabei aus Sicht der vorstehend angeführten Kriterien faktisch zu prüfen, d.h. nicht nur „auf dem Papier“ (im Vertrag). Verschiedene Verträge begünstigen allerdings die Neuqualifizierung als unselbständige Arbeit.
Wird also der Nachweis erbracht, dass Ziel der Parteien die faktische Ausübung einer unselbständigen Arbeit war, gelangen alle damit verbundenen arbeitsrechtlichen, steuerlichen und weiteren Folgen zur Anwendung. Gerade dem Merkmal der „Unselbständigkeit“ kommt Schlüsselbedeutung bei, insbesondere bei den Berufen, die theoretisch entweder selbständig „unternehmerisch“ ausgeübt werden können, oder als Arbeitnehmer.4 Die Grenze für die Beurteilung zwischen der zulässigen eigenen Regelung der Rechte und Pflichten im handelsrechtlichen Vertrag und dem unzulässigen Švarc-System ist dabei sehr eng.
Folgen im Bereich des Arbeitsrechts
Wenn die Vertragsparteien durch einen handelsrechtlichen Vertrag einen Arbeitsvertrag verschleiern wollten, bzw. ihr Wille tatsächlich auf die Ausübung unselbständiger Arbeit abstellt, wird ein solcher Vertrag nach seinem wahren Charakter beurteilt. Im Grunde kann es daher zur „Neuqualifizierung“ der Rechtsbeziehung als normales Arbeitsverhältnis kommen. Infolge dessen kann der Selbständige (faktisch Arbeitnehmer) unter bestimmten Umständen seine Ansprüche zum Beispiel in folgenden Bereichen einfordern:
- Anspruch auf bezahlten Urlaub (siehe vielfach zitiertes Urteil des EuGH in der Sache King);
- Beendigung der Arbeitstätigkeit – kommt es z. B. zur Beendigung der Zusammenarbeit durch Kündigung des Vertrags, könnte der Selbständige (faktisch Arbeitnehmer) durch eine Klage auf ungültige Auflösung des Arbeitsverhältnisses überraschen;
- Arbeitshindernisse – im Falle von Arbeitshindernisse auf Arbeitgeberseite hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Lohnfortzahlung, auch diesen Anspruch kann der im Švarc-System arbeitende Selbständige (faktisch Arbeitnehmer) theoretisch nutzen;
- Zuschläge – der Selbständige (faktisch Arbeitnehmer) könnte auch die Zahlung von Überstundenzuschlägen oder Gewährung von Freizeitausgleich, Zuschläge für Nacht- oder Wochenendarbeit, Arbeit an Feiertagen usw. verlangen;
- Schadenshaftung – der Selbständige (faktisch Arbeitnehmer) könnte sich auf seine geringere Haftung im Einklang mit dem Arbeitsgesetzbuch berufen oder vielmehr von seinem „Arbeitgeber“ Ersatz für einen etwaigen Arbeitsunfall oder Berufskrankheit verlangen.
Folgen im Bereich der Steuern und gesetzlichen Versicherungsbeitragszahlungen
Es steht außer Frage, dass Einsparungen an Steuern und gesetzlichen Versicherungsbeiträgen häufigste Motivation sind, warum die Vertragsparteien auf das Švarc-System zurückgreifen. Die steuerliche Belastung der Gewerbetreibenden gegenüber den Arbeitnehmern ist nämlich deutlich geringer.
Gerade im Bereich der Steuerverwaltung ist allerdings die Rechtsprechung zur Problematik des sog. Švarc-Systems sehr umfangreich, so dass es in der Praxis den Finanzämtern häufig gelingt, die Erfüllung der Merkmale unselbständiger Arbeit nachzuweisen, und sie dann Steuern nachbemessen.
Folgen im Bereich des Verwaltungsrechts
Das Beschäftigungsgesetz definiert illegale Arbeit u.a. als „von einer natürlichen Person außerhalb einer arbeitsrechtlichen Beziehung ausgeübte unselbständige Arbeit.“ Illegale Arbeit wird dabei von den zuständigen Arbeitsaufsichtsbehörden kontrolliert, die für ihre Verrichtung eine Geldbuße verhängen können, nicht nur an den Arbeitgeber (bis zu 10.000.000,- CZK, mindestens jedoch 50.000,- CZK), sondern auch an den unselbständige Arbeit verrichtenden Selbständigen (bis zu 100.000,- CZK).
Sollte dem Arbeitgeber für illegale Arbeit eine Geldbuße verhängt werden, so hat dies auch zur Folge, dass ein solcher Arbeitgeber als „unzuverlässiger Arbeitgeber“ eingestuft wird. Sollte sich bei einem solchen Arbeitgeber für eine offene Arbeitsposition ein Ausländer aus einem Drittstaat bewerben, so wird dieser Arbeitgeber ihn über bestimmte Zeit nicht beschäftigen dürfen, bzw. wird diesem Ausländer keine Beschäftigungserlaubnis erteilt.
Folgen im Bereich des Strafrechts
Nicht zuletzt ist zu betonen, dass der Arbeitgeber bei Aufdeckung des Švarc-Systems auch mit strafrechtlichen Folgen konfrontiert werden kann. Der Arbeitgeber kann nämlich durch sein Verhalten den Straftatbestand Nichtabführung von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und ähnlicher gesetzlicher Zahlungen erfüllen.
1 Dieser Schluss ergibt sich mit einem gewissen Maß an Vereinfachung aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 29.11.2017, C-214/16, in der Sache Conley King v. The Sash Window Workshop Ltd.
2 Die europäische Richtlinie im Bereich des Arbeitsrechts nutzt dabei im Unterschied zum Begriff „Arbeitnehmer“, der von den einzelnen Staaten unterschiedlich genutzt und definiert werden kann, den Begriff „Arbeiter“, der vom EuGH autonom ausgelegt wird.
3 Hauptcharakteristik der arbeitsrechtlichen Beziehung ist, dass die Person über eine bestimmte Zeit für ein andere Person aufgrund ihrer Weisungen Arbeit verrichtet, für die sie eine Vergütung erhält – siehe z. B. Urteil des EuGH in der Sache Deborah Lawrie-Blum gegen das Bundesland Baden-Württemberg, C-66/85, vom 24.01.1985
4 Dass verschiedene Tätigkeiten (ja sogar ein Großteil von ihnen) sowohl selbständig, als auch in einem Arbeitsverhältnis ausgeübt werden können, gesteht auch das Oberste Verwaltungsgericht zu – vgl. Urteil Az. 6 Afs 85/2014 vom 30.09.2014: „Es lassen sich also drei Tätigkeitstypen unterscheiden. Im ersten Fall handelt es sich um Tätigkeiten, die sich ausschließlich als unselbständige Tätigkeit betreiben lassen, sei es wegen der gesetzlichen Regelung (z. B. Gerichtsvollzieher, Notar) oder aus der Natur der Sache (angesichts des Ausmaßes, Art der Tätigkeit, z. B. komplexe Produktionstätigkeit, bestimmte Typen von Handelstätigkeit, großes Immobilienbüro u.a.). Im zweiten Fall handelt es sich um Tätigkeiten zweideutiger Natur (die übergroße Mehrheit kleinerer Gewerbetreibender, wie Maurer, Installateur; freie Berufe, Assistenztätigkeiten; verschiedenste Dienste wie Buchhalter, Friseur usw.), und im dritten Fall um rein unselbständige Tätigkeiten (z. B. Kassiererin in einem Supermarkt). Die Rechtsprechung ist sukzessive zum Schluss gelangt, dass die Tätigkeiten zweideutiger Natur steuerrechtlich nicht in die Kategorie des untersagten Švarc-Systems fallen.